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Alexander Gerst auf der ISS Auf zu neuen Horizonten

In seinen sechs Monaten auf der Internationalen Raumstation hat Alexander Gerst ein volles Programm, an mehr als vierzig Experimenten allein aus Deutschland soll er mitarbeiten. Doch der Aufwand ist groß. Lohnt er sich?
Aus dem russischen Weltraumkontrollzentrum berichtet Christoph Seidler
Prokopjew (v. l.), Gerst und Aunon-Chancellor mit der bisherigen Besatzung

Prokopjew (v. l.), Gerst und Aunon-Chancellor mit der bisherigen Besatzung

Foto: DLR via Twitter/dpa

Wenn er irgendwann mal keine Lust mehr aufs Weltall hat, kann sich Sergeij Prokopjew vielleicht bei der Deutschen Bahn bewerben. Ganze 34 Mal ist der russische Kommandant des Raumschiffs "Sojus MS-09" mit seinen zwei Mitreisenden um die Erde geflogen - und kommt am Ende trotzdem sechs Minuten zu früh an. Um 15 Uhr 01 und 09 Sekunden Mitteleuropäischer Sommerzeit macht Prokopjew am Freitagnachmittag seine Kapsel an der Internationalen Raumstation (ISS) fest, 404 Kilometer hoch am Himmel über China.

Zwei Stunden später - so lange dauern die Drucktests - dürfen der "Sojus"-Kommandant und seine Mannschaft, Co-Pilot Alexander Gerst aus Deutschland und die amerikanische Bordingenieurin Serena Auñón-Chancellor die Luke öffnen. Um 18 Uhr 17 und 53 Sekunden, jetzt hoch über dem Südpazifik, sind die drei am Ziel.

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Die aktuelle ISS-Besatzung empfängt die Neuankömmlinge in türkisen Hawaii-Hemden, es wird viel umarmt. Gerst schwebt routiniert als zweiter in die Station. Er eckt nur kurz an einer GoPro-Kamera an, hält dann lächelnd die Maus aus der Kinder-Fernsehsendung in die Kamera und tut das, was er besonders gut kann: gute Laune verbreiten.

Tweets von der ISS

"Es fühlt sich tatsächlich an, wie nach Hause zu kommen", sagt er anschließend beim Gespräch mit seinen Angehörigen, die ins Kontrollzentrum gekommen sind. Und: "Ich hab erstaunlich gut geschlafen".

Im Video: Ankunft auf der ISS

SPIEGEL ONLINE

Der gut gelaunte Gerst wird die Öffentlichkeit in den kommenden Wochen und Monaten begeistern: Er wird von der Station twittern, wird mit Schülern sprechen, wird dann ab Oktober das Amt des Kommandanten übernehmen. Vor allem aber wird der Wissenschaftler in Deutschland und Europa glücklich machen. "Mit dem Öffnen der Luke wird Alexander Gerst neue Horizonte in Wissenschaft und Technik betreten", wirbt Volker Schmid. Er ist beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) Projektleiter für die "Horizons"-Mission.

"Wir haben viele Premieren auf der ISS", so Schmid. Auch David Parker, Direktor für Exploration bei der Europäischen Weltraumorganisation Esa, spricht von einem "riesigen wissenschaftlichen Programm". Mehr als 50 europäische Versuche hat Gerst für die nächsten Wochen und Monate auf dem Zettel, davon stammen 41 aus Deutschland.

Gersts Projekte im All

"Viele Experimente hat Alexander Gerst bereits bei seiner ersten Expedition installiert. Dafür sind jetzt neue Proben da", erklärt Schmid. Das betrifft etwa den Elektromagnetischen Levitator (EML), einen Schmelzofen für die Materialforschung, bei dem die Proben schweben ohne die Ofenwand zu berühren. Das Ziel: Die Ergebnisse sollen bei der Fertigung von Turbinenschaufeln und Motorgehäusen helfen.

Auch das Plasmakristallexperiment "TK-4" soll Gerst mit neuem Versuchsmaterial bestücken. Aus diesen Versuchen erhoffen sich Forscher unter anderem Erkenntnisse für die Produktion von Computerchips, aber auch für den Kampf gegen multiresistente Krankheitserreger.

Fotostrecke

Astronaut Gerst: Der Countdown läuft

Foto: Joel Kowsky / NASA via AP

Der Astronaut bringt aber auch viele neue Projekte im All auf den Weg. Er erforscht sich dafür unter anderem selbst, misst etwa beim Projekt "Myotones" mit einem drahtlosen Messgerät, wie sich seine Muskeln verändern - oder untersucht beim Versuch "Metabolic Space" seinen Stoffwechsel.

Und er testet neue Gerätschaften, das 3D-Floureszenzmikroskop "Flumias" zum Beispiel, von dem eine schuhkartongroße Testversion Ende Juni mit einem SpaceX-Transporter zur Station kommen soll.

"Erstmals lassen sich In-Vitro-Analysen an lebenden Zellen vornehmen", freut sich DLR-Mann Schmid. Dafür werden die Zellen angefärbt und mit Laserlicht bestrahlt. Die beteiligten Forscher, zum Beispiel von der Universität Magdeburg, hoffen, so Prozesse in menschlichen Zellen live und in 3D zu verfolgen - und würden am liebsten bei einer nächsten Mission ein größeres Mikroskop ins All schicken. Dafür müssen sie jetzt aber erst einmal testen, ob die Technik mitmacht.

Signale von Amseln in Deutschland

Das muss sich auch beim Projekt "Icarus" zeigen, mit dem Tierwanderungen auf der Erde aus dem All überwacht werden sollen. Die Antenne dafür wurde bereits im Februar ins All geschickt, nun soll sie bei einem Außeneinsatz im August installiert werden - allerdings nicht von Gerst, sondern von zwei seiner russischen Kollegen. Die Antenne soll die Signale winziger Sender auffangen, mit denen Forscher Tiere auf der Erde versehen haben. Konkret geht es zunächst um Amseln, die an 35 Orten Deutschlands diese sogenannten Tags bekommen.

Das Raumschiff «Sojus MS-09» dockt an der Raumstation ISS an

Das Raumschiff «Sojus MS-09» dockt an der Raumstation ISS an

Foto: DPA

Die Mini-Sender wissen, wann sich die Raumstation in ihrer Nähe befindet und funken aus Energiespargründen nur dann. Bisher wissen Wissenschaftler verblüffend wenig über das Zugverhalten der Amseln, Untersuchungen an weiteren Arten sollen folgen. Die Technik aus dem All soll bis zu 15 Millionen einzelne Tiere verfolgen können.

Der Assistenzroboter namens "Cimon"

Schon viel Aufmerksamkeit vorab hat "Cimon" bekommen, ein kleiner Assistenzroboter, man könnte ihn als eine Art fliegende "Alexa" beschreiben. Das von Airbus entwickelte, gut fußballgroße Gerät kann sich dank 14 kleiner Ventilatoren frei im europäischen "Columbus"-Modul der Station bewegen. Die Maschine soll eines Tages Raumfahrern bei Langzeiteinsätzen zur Hand gehen - und die Entwicklung von hilfsbereiten Robotern etwa in Medizin und Pflege voranbringen.

Allerdings sind "Cimons" Aufgaben diesmal noch überschaubar. Geplantes Highlight ist, dass der Roboter Gerst beim Drehen an einem Zauberwürfel assistieren soll. Allerdings steht der Server der künstlichen Intelligenz einstweilen noch am Boden. Das heißt, "Cimon" muss sich durch Rückfragen auf der Erde schlau machen. Außerdem darf er wohl nur rund zweieinhalb Stunden überhaupt fliegen, zumindest auf Gersts Mission.

Denn - und das ist ein grundsätzliches Problem - die Zeit, die den Europäern für wissenschaftliche Experimente auf der ISS zur Verfügung steht, ist nicht üppig. Bei der Mission "Horizons" geht es konkret um etwa 80 Stunden - binnen sechs Monaten. Das lässt sich mit dem überschaubaren Anteil erklären, den Europa an den Gesamtkosten der Raumstation übernimmt: gut acht Prozent. Und die werden auch nicht bar bezahlt, sondern durch die Lieferung von technischen Geräten an die Amerikaner abgestottert.

Die Mission "Horizons"

Alexander Gersts zweiter Flug ins All, die Mission "Horizons", startet am Mittwoch um 13.12 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit vom Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan. Die Mission dauert voraussichtlich bis zum 12. Dezember. Während des zweiten Teils seines Aufenthalts wird er als erster Deutscher das Kommando auf der ISS übernehmen. Auf dem wissenschaftlichen Programm stehen 67 europäische Experimente, 41 von ihnen kommen aus Deutschland.

1000 Menschen betreuen Experimente von der Erde aus

"Ein großer Teil der wissenschaftlichen Versuche läuft kontinuierlich ab, ohne dass sich die Astronauten darum kümmern müssen", sagt Esa-Direktor Parker. Das heißt: In der zur Verfügung stehenden Experimentierzeit lässt sich mehr machen, als es zunächst scheint. So muss der Astronaut bei manchen Versuchen einfach nur den Startknopf drücken - und kann sich dann anderen Aufgaben widmen. Die Daten gehen direkt zur Erde.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Nicht alle Experimente klappen. Das können und müssen sie auch gar nicht, deswegen sind es ja Experimente. Aber es ist eben durchaus möglich, dass vorab mit viel Aufmerksamkeit bedachte Versuche im All nicht wie geplant funktionieren - oder nur nach Reparaturen und mit Verspätung. Der bereits erwähnte Schmelzofen EML bei Gersts letzter Mission vor vier Jahren war so ein Fall. Immerhin: Mittlerweile macht er keine Probleme mehr.

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt rechnet vor, dass 1000 Wissenschaftler, Ingenieure und Programmmanager auf der Erde mit den Experimenten befasst sind, die Gerst im All durchführt. "Für den Hochtechnologie- und Wissenschaftsstandort Deutschland ist die Forschung auf der ISS eine lohnende Investition in die Zukunft", lobt auch Thomas Jarzombek voller Stolz. Der CDU-Politiker ist Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt, muss also solche Sachen schon qua Amt sagen.

Man kann allerdings auch mal die Frage stellen: Ist das wirklich so? Lohnt sich die Sache?

Verfechter der bemannten Raumfahrt - und ja, dieser Begriff umfasst auch Frauen, selbst wenn bisher noch keine Deutsche im All war - führen neben den Ergebnissen in der Wissenschaft eine Vielzahl von Argumenten ins Feld. Da ist zum Beispiel der philosophische Aspekt, den auch Alexander Gerst oft betont. Der Mensch ist demnach zum Entdecker geboren. Also muss er eben raus ins All, am besten möglichst weit. Und für diese Trips könne man doch am besten in der Nähe der Erde üben.

Der Preis einer Tasse Kaffee pro Jahr für die Raumfahrt

Dann gibt es das wirtschaftliche Argument. Die Esa zum Beispiel rechnet gern vor, dass der durchschnittliche Europäer pro Jahr nur den Preis einer guten Tasse Kaffee für die Raumfahrt zahle - und dass außerdem jeder eingesetzte Euro das 1,8-Fache an Wirtschaftsleistung generieren würde. Also: Jobs, Steuereinnahmen und so weiter bringe.

Man kann die Raumfahrer in ihren jeweils aus mehreren Staaten zusammengesetzten Crews auch als Völkerverständiger in schwierigen Zeiten sehen, als Vorbilder für Kinder und Jugendliche, als Werber für naturwissenschaftliche und technische Ausbildungsgänge. Und so weiter.

Oder aber: Man kann beklagen, dass das alles nicht ausreicht, dass der Aufwand den wissenschaftlichen Ertrag am Ende eben nicht rechtfertige, dass das 120-Milliarden-Dollar-Projekt ISS einfach zu wenig Greifbares geliefert habe, dass es im Orbit vor allem more of the same gebe. Dass eine Vision fehle, was das alles soll, mit der bemannten Raumfahrt.

Deutschland investiert jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro

Am Ende wird jeder für sich eine Antwort finden müssen. Fakt ist: Die 120 Milliarden Dollar sind die Summe, die alle Partner, Amerikaner, Russen, Japaner, Kanadier und Europäer über 30 Jahre ausgeben. Deutschland investiert jedes Jahr rund 1,5 Milliarden Euro in die zivile Raumfahrt, bemannt und unbemannt zusammengenommen. Für die ISS hat der Bund bisher so um die sechs Milliarden Euro in die Hand genommen, alle Missionen, Beiträge zu den ATV-Raumtransportern und dem "Columbus"-Labor eingeschlossen.

Zum Vergleich: Der nicht eröffnete Berliner Flughafen hat bisher mehr als 5,3 Milliarden Euro gekostet. Der gesamte Finanzrahmen für das Projekt liegt inklusive Erweiterungen, Zinsen etc. bei 6,9 Milliarden Euro.

Aber vielleicht hat das eine auch nichts mit dem anderen zu tun.

Alexander Gerst, so viel lässt sich jedenfalls sagen, wird bis zum 13. Dezember sein Bestes geben. Seine Tage sind vollgepackt: Neben der wissenschaftlichen Arbeit gilt es die Station - und mit zweieinhalb Stunden Sport pro Tag - den eigenen Körper in Schuss zu halten.

Bei einer Sache wird ihm freilich auch das nichts helfen: Beim Gespräch mit seiner Kollegin Auñón-Chancellor bittet deren Familie die Astronautin, ihr Haarband zu lösen - und prompt wabert eine beeindruckende Mähne durch die Schwerelosigkeit. Gerst hat Glatze. Aber vielleicht - gut, sehr wahrscheinlich ist das nicht - liegen Kurzhaarfrisuren auf der ISS ja auch bald im Trend. "Sojus"-Kommandant Propopjew hat angekündigt, sich bei einem russischen Sieg bei der Fußball-WM die Haare abzuschneiden.

Offenlegung: Die Recherche in Koroljow wurde ermöglicht durch eine Pressereise auf Einladung der Europäischen Weltraumorganisation (Esa) und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), die auch einen Teil der Kosten übernommen haben.