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Alexander Gerst unterwegs zur ISS Jetzt noch 34 Mal um die Erde

Aus der kasachischen Steppe ins All: Die Sojus-Rakete mit Alexander Gerst an Bord ist zur Internationalen Raumstation gestartet. Der Anflug dauert jetzt etwas länger - aber die Crew hat so Zeit zum Relaxen.
Aus Baikonur berichtet Christoph Seidler

Die roten Digitalziffern zählen unerbittlich die Sekunden nach unten. Es ist zwar kein offizieller Countdown, aber trotzdem kann man sich mithilfe der Anzeige auf das gleich folgende Spektakel einstellen. Oder eben nicht. Denn auf das, was da um 17.12 Uhr kasachischer Zeit, also 13.12 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit, in der kargen Steppenlandschaft des Weltraumbahnhofs Baikonur passiert, kann man sich eigentlich nicht wirklich vorbereiten. Es zieht einen auf eine ziemlich archaische Weise in seinen Bann.

Zuerst kommt ein vergleichsweise leises Wummern, dann blendet ein noch kleiner Lichtpunkt die Augen. Dieser Lichtpunkt wird größer, zu einer Fackel, und heller, viel heller. So hell, dass die Augen irgendwann tränen, wenn man hinsieht. Blinzeln will man ja auch nicht, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. Währenddessen wird der Krach lauter und lauter, sogar am eigenen Leib als Vibrieren fühlbar. Erst jetzt erhebt sich die lärmende Fackel in den Himmel.

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Alexander Gerst: Nächster Halt ISS

Foto: SHAMIL ZHUMATOV/ REUTERS

Drei Menschen sitzen an ihrer Spitze in einer Kapsel, eingepackt in weiße Druckanzüge, das Helmvisier nach unten geklappt. Sie wissen erst durch das wilde Rattern und Schütteln, dass ihre Reise nun losgeht. Endlich, nach rund zweieinhalb Jahren des Trainings. Sie haben kein Herunterzählen gehört. Aber sie spüren in ihrem gerade vier Kubikmeter großen Vehikel, dass es nun soweit ist. Es trägt eigenartigerweise den Namen Landemodul, weil sie in einem halben Jahr eben auch in ihm zurück zur Erde kommen.

Was dort, langsam zunächst, dann immer schneller, in den Himmel steigt, ist der Raumflug "Sojus MS-09". An Bord sind der russische Kommandant Sergeij Prokopjew, der Co-Pilot Alexander Gerst aus Deutschland und die amerikanische Bordingenieurin Serena Maria Auñón-Chancellor. Die röhrende Rakete bringt sie auf den Weg zur Internationalen Raumstation (ISS), dort soll Gerst im Oktober auch das Amt des Kommandanten übernehmen.

Doch dafür muss er erst einmal auf die Station kommen - und das ist für alle Beteiligten ein Schauspiel. Kraftvolle Pumpen fördern beim Start die ersten von insgesamt 77 Tonnen Kerosin in die Brennkammern der Sojus. Dort treffen sie auf ungefähr doppelt so viel flüssigen Sauerstoff - und das Ergebnis ist furios, eine kontrollierte Explosion: Die Rakete steigt dank unvorstellbarer 26 Millionen PS in den Himmel. Oder anders gesagt: Für zwei Minuten entfachen ihre Triebwerke so viel Leistung wie ein Dutzend große Kraftwerke am Boden, insgesamt 20 Gigawatt.

Die Mission "Horizons"

Alexander Gersts zweiter Flug ins All, die Mission "Horizons", startet am Mittwoch um 13.12 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit vom Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan. Die Mission dauert voraussichtlich bis zum 12. Dezember. Während des zweiten Teils seines Aufenthalts wird er als erster Deutscher das Kommando auf der ISS übernehmen. Auf dem wissenschaftlichen Programm stehen 67 europäische Experimente, 41 von ihnen kommen aus Deutschland.

"Du brennst am Hintern", beschreibt Sigmund Jähn die Situation lakonisch. Der erste Deutsche im All ist für Alexander Gersts zweiten Start noch einmal nach Baikonur gekommen. Das, wie er sagt, wohl letzte Mal. Der in Russland hoch geachtete Kosmos-Veteran hat seinen Nachfolger am Gebäude 254 des Weltraumbahnhofs drei Stunden vor dem Start noch einmal verabschiedet.

Vor fast genau 40 Jahren ist Jähn selbst von Baikonur aus abgehoben, von derselben Startrampe. Er weiß, wie man sich in einer drückend engen Kapsel fühlt. Und er muss eine Antwort haben auf die Frage, die vielen hier auf der Zunge liegt: Was macht die rohe Kraft der Rakete mit einem? Hat man Angst? "Man denkt da nicht dran", sagt Jähn. Wer sich fürchte, brauche im Übrigen gar nicht erst in die Sojus einzusteigen.

Dass er in der Tat keine Angst hat, dass er sich ganz im Gegenteil sogar freut, das hat Alexander Gerst auf der letzten Pressekonferenz der Crew am Dienstag noch einmal klargestellt. Zusammen mit seinen Begleitern und der Ersatzcrew saß er in einem gut gepolsterten Lederstuhl im "Cosmonaut"-Hotel von Baikonur, aus Infektionsschutzgründen hinter einer Glasscheibe.

"Es ist ein sanfter Start"

"Ich bin komplett entspannt", so Gerst. Die Frage "Kann ich das schaffen?" stelle sich nicht mehr, wenn man zum zweiten Mal ins All fliege. Auch beim Abschied von Familie und Freunden kurz vor dem Start wirkte er ausgesprochen gelöst, sogar euphorisch.

Während es für seinen russischen Sojus-Kommandanten und seine amerikanische Kollegin der erste Flug ins All ist, hat Gerst die Rolle des Routiniers. Selbst bei seiner Abschlussprüfung im Trainingszentrum sei er aufgeregter gewesen als vor dem Start, so Gerst. Bei den Simulationen im Sternenstädtchen bei Moskau hätten die Ausbilder die Crew schließlich mit besonders fiesen Gefahrensituationen traktiert.

Also wird er nun wohl versuchen zu genießen. "Es ist ein sanfter Start, die Beschleunigung baut sich nur langsam auf", sagt der Belgier Frank de Winne. Er ist zwei Mal zur ISS geflogen und leitet heute das Astronautencorps der Europäischen Raumfahrtorganisation (Esa). Heute steht auch er unter den Zuschauern in gut anderthalb Kilometern Entfernung auf einer überfüllten Aussichtstribüne. Nur die Startcrews, sie haben sich unweit der Rakete in einem Bunker eingeschlossen, und ein paar ferngesteuerte Kameras von Pressefotografen sind jetzt noch näher an dem Spektakel dran.

Gleich nach dem Start werden die Raumfahrer nur mit dem anderthalbfachen der Erdbeschleunigung in ihre Sitze gedrückt. Das ist in der Tat noch sanft, denn später werden es bis zum dreieinhalbfachen sein, wenn in 39 Kilometern Höhe die vier seitlich angebrachten Booster der Rakete abgesprengt werden, knapp zwei Minuten nach dem Start. Ganz angenehm ist das kaum, aber offenbar gut zu überstehen - schließlich hat die Crew die Belastungen in der Zentrifuge trainiert.

"Es ist beeindruckend. Man kann sich das nur schwer vorstellen: In weniger als neun Minuten von der Erdoberfläche in eine Höhe von etwa 200 Kilometern katapultiert zu werden, auf eine Geschwindigkeit von fast 28.000 Kilometern pro Stunde", sagt Thomas Reiter. Auch er ist zwei Mal mit der Sojus geflogen, 1995 zur "Mir", etwas mehr als zehn Jahre später dann zur ISS. Der Ex-Astronaut arbeitet heute als Berater des Esa-Generaldirektors Jan Wörner und kümmert sich um die internationale Zusammenarbeit.

Komplizierte Beziehung

Und die ist in diesen Tagen wichtig, vielleicht wichtiger als je zuvor in der jüngeren Vergangenheit. Dass dort ein Russe, eine Amerikanerin und ein Europäer zusammen in der Kapsel sitzen, dass sie sich kennen und schätzen, dass sie ein halbes Jahr lang zusammen im Weltall leben, dort Erkenntnisse für die Wissenschaft auf der Erde sammeln, ist nicht mehr selbstverständlich. Bislang haben die geopolitischen Konflikte der Welt den Weltraum noch nicht wirklich erreicht. Die Worte der Hardliner haben die Raumfahrer und all die Tausenden Menschen, die ihre Reise erst möglich machen, noch nicht an ihrer Arbeit gehindert. Doch wird es so bleiben?

Wie schwierig die Sache ist, zeigt allein ein Umstand: Der neue Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskomos, Dimitrij Rogosin, der heute auch in Baikonur ist, steht als Putin-Vertrauter auf Sanktionslisten der EU und der USA. Er hat in der Vergangenheit rhetorisch gegen beide ausgeteilt. Nun wird man sehen, auf welchen Kurs der frühere Vizeministerpräsident die Raumfahrt seines Landes führen wird, mit welcher Haltung er den westlichen Partnern begegnen wird, die auf Russlands Raumfähren angewiesen sind - und die mit ihren Zahlungen dafür die russische Raumfahrt mitfinanzieren.

Es ist eine komplizierte Beziehung - und man kann über jeden Moment froh sein, in dem einfach nur Routine herrscht. So wie jetzt. Die Sojus steigt inzwischen immer schneller. Etwa zweieinhalb Minuten nach dem Start wird die Verkleidung der Kapsel abgesprengt, die sie in den dichten Atmosphärenschichten noch schützen musste. "Da kann man schon dieses Schwarzblau des Himmels sehen", sagt Thomas Reiter.

Vom Boden aus gesehen verschwindet "Sojus MS-09" langsam aber sicher aus dem Blick. Der Lichtpunkt wird langsam kleiner, der Krach leiser. Dann sieht man nur noch einen Abgasstreifen, den man für die Spur eines Flugzeugs halten könnte.

In Baikonur lassen Zuschauer eine Konfetti-Kanone ploppen. Auch Esa-Chef Jan Wörner ist nach dem Start sichtlich bewegt. Er erzählt, wie er Gerst unmittelbar an der Startrampe noch einmal umarmt habe. "Hier vertraut man den Sohn, in Anführungsstrichen, einem technischen Gerät an. Wenn das ohne Sorgen geht, dann finde ich, ist was schiefgegangen."

Nun kann er sich entspannen, die Startcrew ebenso. Gleich übernimmt die Missionskontrolle in Moskau den Flug. Die schwierigste und gefährlichste Phase des Fluges ist vorbei. Knapp neun Minuten nach dem Start spürt die Crew zum ersten Mal die Schwerelosigkeit, die dritte Raketenstufe ist ausgebrannt. Nun schweben die Maus aus der gleichnamigen Kinderfernsehsendung und das russische WM-Maskottchen Zabivaka durch die Sojus - als Schwerelosigkeitsanzeiger, als sichtbares Zeugnis, dass die Besatzung die Erde hinter sich gelassen hat.

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Alexander Gerst: Schlemmen in der Schwerelosigkeit

Foto: Oliver Berg/ picture alliance / Oliver Berg/dpa

Beim letzten Flug, im Frühjahr 2014, konnten Alexander Gerst und seine damaligen Kollegen Reid Wiseman und Maxim Surajew nach nur vier Erdumrundungen an der ISS festmachen. Der kurze Anflug, damals noch relativ neu im Programm dauerte nur sechs Stunden. Diesmal muss die Sojus Besatzung länger in der Kapsel ausharren, 34 Erdumrundungen innerhalb von gut 50 Stunden sind nötig, um sich an die Raumstation anzunähern. Das hat mit der Flugbahn der ISS zu tun - und dem Umstand, dass sich die Sojus beim Anflug nicht zu stark aufheizen soll.

Das wissenschaftliche Programm (Auswahl)

"Myotones" ist eines der medizinischen Experimente, an denen Gerst teilnehmen wird. Wissenschaftler wollen damit die biomechanischen Eigenschaften des ruhenden menschlichen Muskels untersuchen. Die Ergebnisse sollen auch in die Rehabilitation nach Knochenbrüchen einfließen.

"Das wird eigentlich ganz entspannt, wir freuen uns alle drauf", hat Alexander Gerst drei Stunden vor dem Start eine Frage seiner Familie zum diesmal längeren Anflug lachend beantwortet. Unmittelbar zuvor hatte er seinen Raumanzug für den Flug angelegt, hatte ihn auf Lecks getestet. "Es ist gar nicht so schlecht, wenn der Anflug zwei Tage dauert", sagt auch Frank De Winne. "Dann kann man ein bisschen entspannen auf dem Weg zur Raumstation, der Starttag war ja doch sehr lang."

In der Tat können Gerst und seine Kollegen bei dieser Route ihre unbequemen Druckanzüge auch einmal ausziehen, können aus ihren engen Sitzen ins zumindest etwas geräumigere Orbitalmodul schweben, können Omelett aus Büchsen essen, Fruchtsaft trinken oder - wollen wir es mal so nennen - zur Toilette gehen.

Am Freitag um 15.05 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit soll "Sojus MS-09" die ISS erreichen, knapp zwei Stunden später werden die Luken geöffnet. Alexander Gerst und seine zwei Kollegen sind dann am Ziel. Die ersten Tage auf der Station können - auch für geübte Raumfahrer - allerdings stressig sein. Da droht die Raumkrankheit, weil das menschliche Innenohr sich erst ans Schweben gewöhnen muss. Außerdem können Kopfschmerzen und eine verstopfte Nase die Raumfahrer plagen.

Alexander Gerst hat sich vorbereitet, so gut er konnte - unter anderem wurde er in den Tagen vor dem heutigen Start jeweils zehn Minuten in einem Drehstuhl malträtiert. Außerdem musste er - im wahrsten Sinne des Wortes - abhängen in einem kippbaren Bett, 30 Minuten mit dem Kopf nach unten. Und dann war da noch der alte russische Trick, um den Körper sogar im Schlaf an die neue Belastung zu gewöhnen: Die vorerst letzten Nächte auf der Erde hat Gerst mit groben Holzklötzen unter dem Fußende seines Bettes geschlafen.

Offenlegung: Die Recherche in Baikonur wurde ermöglicht durch eine Pressereise auf Einladung der Europäischen Weltraumorganisation (Esa) und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), die auch einen Teil der Kosten übernommen haben.